Dienstag, 17. Oktober 2017

Unser Kohlrübenwinter

Steckrübe Wilhelmsburger, Gewicht
der Knolle 1kg - ideal
Heute haben wir die Erste "gezogen". Eines der wenigen Kohlgemüse, die noch in unserem Nutzgarten gelingen sind die einst vielgehassten Kohlrüben oder auch Steckrüben, Erdkohlrabi, schwedische Rübe, Wruke, Butterrübe, Unterkohlrübe oder Unterkohlrabi genannt. Legendär wurde der "Kohlrübenwinter" 1916/17, in dem die eigentlich für Tierfutter vorgesehene Kohlrübenernte aus geschmacklich minderwertigen Sorten in einer Notmassnahme beschlagnahmt wurde, geschnitzelt und getrocknet als Ersatzlebensmittel aufgrund des Kartoffelmangels verteilt wurde. Dann gab es den gesamten Winter und Frühling lang täglich Kohlrübensuppe, Kohlrübenmarmelade, Kohlrübenschnitzel, Ersatzmarzipan aus Kohlrüben und die armen Futter-Kohlrüben wurden zum meistgehassten Lebensmittel Deutschlands. In bitterem Humor wurde sie "ostpreussische Ananas" genannt. Sie ist kalorienarm, hilft nur gegen das Hungergefühl aber bringt wenig Energie, nicht einmal die Hälfte von Kartoffeln. Um den Tagesbedarf an Kalorien zu decken, müsste man täglich mindestens sieben Kilo davon essen. Nicht zuletzt deshalb hat sie nicht über den Hungerwinter geholfen, damals starben fast eine Million der geschwächten Menschen an Unterernährung. Positiv vermarktet wird sie heute als "Schlankheitsgemüse", angesichts ihrer Geschichte in Hungerzeiten ebenfalls nicht ohne Ironie.

Wo sie beliebt blieben

In Deutschland brach der Anbau sofort zusammen, als es wieder mehr Lebensmittel gab, die meisten Sorten sind verloren und erloschen, auch in der Literatur als sehr gut beschriebene Sorten. Durchgängig populär geblieben sind sie aber in Grossbritannien und Skandinavien mit Zentrum Schweden, sogar in den USA war sie früh bekannt. Das drückt sich auch im englischen Wort für die grosse gelbe Variante aus: "swede" oder "rutabaga", entlehnt aus einem alten schwedischen Dialektwort. Um 1620 wurde sie in Schweden als wild vorkommend bezeichnet, botanisch ist sie eine vielleicht zufällige Kreuzung aus Brassica rapa (Rübsen, Herkunft Südeuropa) und Brassica oleracea (Gemüsekohl, Wildkohl, wächst an Küsten), entstanden vermutlich in Skandinavien. Genetisch stehen sie somit dem Raps (ebenfalls eine rapa und oleracera - Kreuzung) näher wie anderem Kohlgemüse.
Steckrüben heissen sie in Deutschland nach ihrem beliebtesten Anbausystem. Man hat die Futtersorten früher ab Mai oder Juni gesät und im Juli auf abgeerntete Frühkartoffelfelder verpflanzt, sie "gesteckt". Im Herbst hat man die Schweine aufs Feld getrieben, die sie abgefressen haben oder sie wurde aus der Erde gezogen, geerntet und im Stall verfüttert.

Heute tauchen sie wie alle zeitweilig unpopulär gewordenen alten Sorten auch in der Gourmetküche auf, liegen im Spezialitätenregal und werden auf edlen Marktständen feilgeboten, vor allem in Norddeutschland. Weiter südlich wächst sie aber ebenso gut. Bereitet man gute Sorten richtig zu, schmecken sie zart, voll und süss mit einer leichten Senfölschärfe, ein Genuss den man ihnen nicht zugetraut hätte. Gelbe Sorten schmecken besser, am häufigsten wird in Deutschland die langsam wachsende aber gross werdende "Wilhelmsburger" angebaut. Sie ist von gelber Fruchtfleischfarbe mit leicht grünlicher Schale oder nur ein Kragen, wird recht gross, hat ausladende Blätter von blaugrauer Farbe, eine lange Vegetationsdauer. Sie wird bereits im Frühling ausgesät und erst ab Herbst gegessen. Um gut zu werden, benötigt sie Zeit und Sonne. Ich habe sie auch jährlich im Anbau, ausserdem mit wechselndem Erfolg verschiedene schneller wachsende verwandte Mairüben, gelbe wie weisse mit und ohne violettem Kragen. Die sind etwas für eigene Beiträge, diesmal will ich mich nur auf Steckrüben konzentrieren.

Sorten

Saatgut ist meistens nur für "Wilhelmsburger" zu haben - eine wirklich gute und robuste Sorte, aber mit etwas Aufwand bekommt man noch "Best of All", die mit ihrem optisch attraktiven lila Kragen im Supermarkt häufiger ist; weiterhin "Magress" und die helle "Tyne", eine F1-Hybride. Auch mein Favorit ist ganz klar "Wilhelmsburger", sie bringt die schönste Süsse, hat Aroma ohne wirklich kohlig zu werden, wird wenig von Krankheiten befallen. Die violettschaligen Varietäten mögen besser aussehen, sind aber neutraler im Geschmack. Wer auf besonders "mild" steht, wird damit auch glücklich sein. Die Konsistenz der Sorten ist ähnlich. Roh wie Kohlrabi, aber mit höherer Dichte. Gekocht wie eine Kartoffel, wird bald weich und lässt sich dann leicht zerdrücken.

Der Anbau

Steckrübenreihe
Bislang habe ich "Wilhelmsburger" nicht "gesteckt", sondern immer gleich an dem Ort ausgesät, an dem sie auch später reif wurden und höchstens zu dicht stehende Pflanzen beseitigt. Ich traue der Verpflanzung im Juli nicht. Das Klima ist anders als in Ostpreussen, im Juli ist es oft brüllend heiss und umgepflanzte Jungpflanzen verbrennen innerhalb kürzester Zeit. Ihr Wuchsabstand sollte mit 30cm, besser 40cm relativ gross sein, zu eng stehende Pflanzen entwickeln aus Sonnenmangel keine grossen Knollen und bekommen weniger Süsse. Für ein Kohlgemüse zeigt sich die Pflanze aber robust und klimatisch anpassungsfähiger wie Gemüsekohl. Sie keimt auch unter relativ trockenen Bedingungen, ich habe einmal überlagerten Samen in eine trockene Ecke geworfen und wunderte mich anschliessend, wie gut viele Pflanzen trotzdem aufgingen, Knollen bildeten, besser noch als auf meinem vorbereiteten Beet. Für einige typische Geisseln des Kohls ist sie weniger anfällig, die Kohldrehherzmücke war zum Beispiel noch kein Problem. Sie schosst nicht, die weisse Fliege kommt vor aber schädigt nichts wirklich, Kohlerdflöhe sind zwar für Jungpflanzen sehr schädlich aber älteres Laub können sie nicht mehr schädigen, ganz im Gegensatz zu Kohlpflanzen wie Chinakohl. Steckrüben entwickeln arttypische blaugraue (an der Farbe kann man kleine Pflänzchen bereits identifizieren) Blätter mit Wachsüberzug, der einen Schutz gegen Kohlerdflöhe darstellt. Leider kann der Schädling die Keimblätter und ersten Jungblätter noch angreifen. Ein Problem sind Windböen (Gewitter!) an Jungpflanzen. Sie knicken an der Nahtstelle von Wurzel und Stengel. Später droht Raupenfrass, Fäulnis im Herz der Blattrosette.
Genetzte Ackerschnecke, tagsüber zwischen
Steckrübenblättern versteckt
Faulende Kohlrüben lösen sich von innen her in Schleim auf und stinken erbärmlich, man riecht sie bereits aus der Entfernung. Schnecken fressen an den Blättern, vor allem die weisse Gartenschnecke vergreift sich sogar noch im Spätherbst daran und zieht gerne komplett zu den Blättern hoch. Sieht man den typischen Lochfrass, sollte man die Unterseite der Blätter absuchen, dort kleben die Schädlinge tagsüber zwischen zwei übereinanderliegenden Blättern.

Insgesamt ist ihre Anbausicherheit im Vergleich zu fast allen anderen Kohlgemüsearten hoch. Nur Broccoli geht ähnlich gut. Der Rest des Kohls hat im trockenwarmen, flachgründigen Nutzgarten und bei der Klimarealität der Gegenwart weit grösserere Probleme und Ausfälle.

Ernte 

Faulende Kohlrübe
Ab Oktober geht es an die Ernte. Wir essen sie kontinuierlich, lassen noch nicht geerntete Rüben meist bis Dezember auf dem Beet, sie vertragen leichten Frost. Bei -4°C würde ich die Grenze ansetzen, eine Nacht mit -8°C führte zu Totalschaden, der Bereich dazwischen führt zu verfrühter Verholzung. Spätestens Dezember werden sie gezogen, oberflächlich gesäubert und kommen in eine Kiste mit feuchtem Sand, die in der kühlen Aussengarage steht. Bis März schmeckt sie gut, dann wird sie holzig. Ein richtiges Wintergemüse. Leider keines, das die Kinder mögen. Wahrscheinlich, weil Papa davon zu sehr geschwärmt hat. Knapp zugeteilt und nicht angepriesen wären sie sicher beliebter.

 

Zubereitung

Halbierte Knolle. Oberen Teil grosszügig abschneiden.
Blanchiert, paniert und in Fett ausgebacken mag ich sie am liebsten. Auch als einfache Beilage sind sie gut, nur gesalzen. Man kann sie in Streifen hobeln und wie Rösti zubereiten. Oder gekocht pürieren. Gewürze wie Kreuzkümmel oder Curry passen, frische Gewürze wie Dill, Blattkoriander und weitere. In Finnland ist ein gut gewürztes Weihnachtsgericht aus Kohlrüben Tradition. Aufpassen sollte man nur, dass Steckrüben nicht zu lange gekocht werden, sondern nur bis sie gerade weich sind. Zu lange gekocht wird die Süsse schwächer, der kohlige Ton stärker. Wohl bekomms. Gute Steckrüben im Winter zu haben ist heute erfreulich und glücklicherweise kein Zeichen für eine Hungersnot mehr.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen