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Donnerstag, 12. Juli 2018

Verjus, Agrest - der selbstgemachte Zitronensaft aus Weintrauben

Im Beitrag über Tafeltrauben stand es schon: Man kann sogar aus den Beeren unreifer Wein- oder Tafeltrauben interessante Produkte herstellen. Und das funktioniert sogar relativ einfach. Ich habe das natürlich ausprobiert und mich gewundert, wie leicht es vonstatten ging und wie gut das Ergebnis ist. Presst man Saft aus unreifen Trauben, kann das Ergebnis in der Küche als universelles Säuerungsmittel Verwendung finden, etwa so wie Zitronensaft. Sogar mit einigen Vorteilen gegenüber Zitronensaft. Dies hat eine sehr lange Tradition, die zwischenzeitlich in Deutschland leider fast verloren ging. Dieser Saft aus grünen Trauben nennt sich Agrest oder Verjus. Anfang Juli habe ich wieder welchen aus einigen meiner Trauben zubereitet. Doch der Reihe nach.

Geschichte


Die Idee, Verjus herzustellen ist uralt, schon in Mesopotamien hat man das getan. Unreife Trauben gibt es, seit es Wein gibt und es liegt ziemlich nahe, diese Trauben auch noch irgendwie zu verwenden, vor allem wenn sie beispielsweise durch Hagelereignisse oder Abrisse anfallen. Der daraus gepresste Saft wurde als universelles Säuerungsmittel in der Küche verwendet, in der Medizin als Arzneimittel und in verdünnter Form als erfrischendes Getränk. Verjus/Agrest verschwand zwar nie ganz, aber in den letzten Jahrhunderten zog sich seine Verwendung in Nischen zurück. Zum Säuern verwendete man immer mehr Zitronensäure (E 330), heutzutage sogar biotechnisch hergestellt, in den USA und China mittels gentechnisch veränderter Schimmelpilze. In einigen Ländern ist Agrest aber als tägliches Säuerungsmittel erhalten geblieben. Auch der klassische echte Dijon-Senf wird mit Agrest hergestellt. Er enthält vor allem Apfel- und Weinsäure und kombiniert sich erstklassig mit gemahlenen Senfkörnern. Früher wurde Verjus mit viel Salz haltbar gemacht, heute füllt man ihn heiss und steril in dichte Glasflaschen mit luftdichtem Verschluss. Geöffnet kann er mangels Zucker zwar nicht gären, aber schimmeln. Man muss ihn im Kühlschrank aufbewahren. Der Liter in Bioqualität kostet satte 58 EUR (Stand Juli 2018), wer ihn kaufen will.

Ausdünnen und grün ernten

Grüne Traube - beschädigt, ideal für Verjus

"Grüne Trauben? Lass ich lieber reif werden und habe dann das süsse Obst oder den Saft", werden die meisten Leute spontan sagen. Aber viele Tafeltraubensorten der jüngsten Generation stammen aus Osteuropa und haben neben einigen Vorteilen leider auch Nachteile. Einer dieser Nachteile ist ihr starker Hang zur Überlastung. Es werden massenhaft Trauben angesetzt, die der Stock nie und nimmer ernähren kann. Der fette Ansatz sieht erst mal toll aus, ist aber ein heftiges Eigentor. Man muss dann durch die Zweige gehen und von Hand ausdünnen, unreife Trauben abschneiden. Das Problem haben auch klassische Rebsorten, von denen Klone über Jahrzehnte hinweg primär nach Ertragskraft ausgelesen wurden: Hoher Beerenansatz, hohe Ernte. Leider bringt eine Riesenernte minderwertige Qualität. Was der Rebstock leisten kann, ist durch Blattfläche und Sonneneinstrahlung physikalisch begrenzt, steigt der Fruchtansatz über die Leistungsfähigkeit der Pflanze, leidet der Rebstock, die Beeren bleiben kleiner, es gibt Reifeverzögerungen, Aromaschwäche, mangelnde Zuckereinlagerung, abgesenkte Frosttoleranz, Wachstumsblockaden bis zum him Absterben im Folgejahr. Um noch vernünftige Qualität zu erhalten, muss zu hoher Fruchtansatz ausgedünnt werden.

Blick durchs Refraktometer bei 15°OE
Ein guter Zeitpunkt zum Ausdünnen ist erreicht, wenn die Beeren Erbsengrösse haben. Für die Agrestherstellung kann man sich noch ein bisschen länger Zeit lassen. Hier liegt der optimale Zeitpunkt zu Beginn der Zuckereinlagerung, denn dann wird auch Saft gebildet. Die Beeren sind dabei schon etwas grösser wie Erbsen, je nach Sorte beginnt das im Juni oder erst Anfang Juli. Gefärbt sind sie da noch nicht, deshalb ist es egal ob es weisse, rote oder blaue Sorten sind. Man kann das mit Hilfe eines billigen Refraktometers messen, der Öchslegrad der grünen Beeren sollte 10° / 2 Brix nicht übersteigen, bis 20° OE geht es aber auch noch, allerdings ist dann dem Rebstock schon viel Energie entzogen und die positiven Effekte durch die Ausdünnung schwächen sich ab, ausserdem sinken die Säuregehalte. Süss soll Agrest keinesfalls sein. Das zu kontrollieren geht schnell, "quick & dirty": Beere mit den Fingern zerquetschen, Tropfen auf die Messfläche, durch das Okular gucken - alles klar.

Wieviel ausgedünnt werden sollte, ist sortenabhängig. Pro Trieb werden gewöhnlich eine grosse oder zwei kleinere Trauben empfohlen, was darüber liegt sollte man schneiden. Geschnitten werden entweder ganze Trauben oder von allen Trauben die untere Hälfte. Die abgeschnittenen Trauben werden gesammelt und sofort weiterverarbeitet.

Herstellung


Die Trauben werden grob entrappt (von den Stängeln abgerissen) und zu einer Maische verarbeitet, zermust. Im Gegensatz zur Weinherstellung sollte man das mit einem Mixer machen, der Mus herstellt. Bei reifen Trauben für Wein würde das einen schwer pressbaren Brei mit vielen Trübstoffen und gehäckselten Traubenkernen ergeben, bei unreifen Trauben ergibt es eine kräftig grüne Sosse, die sich bei hoher Ausbeute ausserordentlich gut pressen lässt.
Für die Pressung nimmt man am besten einen Handpressbeutel aus Nylon. Nach wenigen Minuten bekommt man Saft und Maische ganz low-tech getrennt. Saft kurz auf >90°C erhitzen, aufsteigenden Schlamm abschöpfen, in kleine Flaschen abfüllen, abkühlen lassen - schon fertig. Ungeöffnet ist Agrest fast unbegrenzt haltbar, geöffnet im Kühlschrank einige Wochen. Ich habe für den ganzen Zubereitungsvorgang keine halbe Stunde gebraucht, ein Jahr später etwas länger weil ich diesmal richtig grosse Mengen mit mehreren Litern hergestellt habe. Das Reinigen der Küchengeräte dauerte so lange wie die Herstellung.
Nach einiger Zeit Lagerung kristallisiert am Flaschenboden fast immer Weinstein ab, so wie er von manchen alten Weinen oder Traubensaft bekannt ist. Das sind nichtlösliche Salze der Weinsäure wie Kaliumhydrogentartrat oder Calciumtartrat, selbstverständlich ungiftig. Sie schmecken nach Nichts und lassen sich für einige andere Dinge weiterverwenden, etwa als Backtriebmittel, Komplexbildner, Säuerungsmittel und Säureregulator. Calciumtartrat ist auch ein Lebensmittelzusatzstoff mit der Nummer E354.

Ausgepresste Maische und frischer Saft


Verwendung

Verjus heisssteril abgefüllt. Der trübe Satz lässt sich entfernen.
Und wie schmeckt das nun? Ganz erstaunlich. Ein Weintraubenaroma ist bereits vorhanden. Die enthaltene Säure wirkt sehr breit, erfüllt den ganzen Mund im Gegensatz zum spitz wirkenden Zitronensaft. Sie hält auch länger an, kriecht aber nicht unangenehm durch den Mund. Nichts davon kommt ätzend, unrund oder zu gerbstoffhaltig. Fürs Kochen und in Salaten ist das eine echte Alternative zu Essig oder Zitronensaft. Die gleiche Menge Verjus wirkt milder wie Zitronensaft, dafür mit harmonischer Wirkung, Säure die säuert aber nicht so leicht stechend wie Zitrone oder Essig wird. Ein Gewinn für die Küche. Das Weintraubenaroma merkt man erst in der Verdünnung, vorher wird es von der Säure übertönt. Ich habe jetzt immer eine angebrochene Flasche im Kühlschrank stehen und habe die Agrestgewinnung Jahr für Jahr ausgeweitet.

Seit alters her wird Agrest auch für allerlei gesundheitliche Zwecke empfohlen. Da es aber in diesem Blog nur um echte, selbst gemachte Erfahrungen geht stattdessen der Hinweis auf die äusserst inhaltlich ausgreifenden Seiten: https://www.elmar-lorey.de/agrest/.

Agrest, halbe Jahresernte